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Von Wurzeln und Flügeln

„Ohne Wurzeln keine Flügel“ ist der Buchtitel von Bertold Ulsamer, welcher 1999 erstmalig veröffentlicht wurde. Das Buch beschäftigt sich mit dem systemischen Therapieansatz von Bert Hellinger und erklärt einfach und verständlich dessen Wirkweise. Bert Hellinger ist umstritten, dennoch hat er die systemische Arbeit sehr geprägt. Für mich Grund genug, hierauf in diesem Beitrag einzugehen: 

Wenn das Wissen und Spüren der eigenen Wurzeln fehlt, bleibt der Schwung unter die Flügel ein Lufthauch.

In diesem Beitrag möchte ich einmal näher beschreiben, was mit dem Wissen um die Wurzeln gemeint ist. Es geht hier um die Auseinandersetzung folgender Dinge:

  • Wer sind meine Vorfahren?
  • Aus welchem Kulturkreis stammen sie?
  • Welche Religion hat eine Rolle gespielt?
  • Mit welchen Themen war die Generation der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern beschäftigt?
  • Welche (Überlebens-)Strategien und – daraus resultierend – welche Ressourcen haben sich daraus entwickelt?

Natürlich lässt sich dies nicht immer lückenlos aufklären, hinterfragen oder gar erahnen. Die wenigsten Menschen haben ihren Stammbaum mit allen Details vor Augen. 

Überlieferte Puzzleteile an die richtige Stelle zu legen, reicht, um ein Verständnis für die eigene Familiengeschichte und damit die eigenen Wurzeln zu entwickeln.

Manchmal berichten mir Klient_innen im Beratungsprozess von Prägungen, die sie nicht einordnen können, z.B.:

„Egal, was wir geplant haben, es gab immer einen Notfallplan! Sozusagen einen Plan B, falls Plan A nicht funktioniert. Ich habe das nie verstanden und fand das im Erwachsenenalter auch mehr als schräg. Meine Eltern wollten z.B. am nächsten Tag in den Urlaub fahren und normale Menschen würden eher den Kühlschrank leer räumen. Aber nicht meine Eltern, die packen ihn voll mit Dingen, die sie dann schon mal haben, falls sie doch nicht in den Urlaub fliegen. Und das schlimmste: Ich wollte das nie, aber ich bin genauso!“

„Meine Frau hasst geschlossene Türen, was dazu führt, dass wir extrem hohe Heizkosten haben. Ich würde gern verstehen, was das soll?“

„Meine Mutter hat meine Schwester immer bevorzugt. Mein Vater hat versucht, das auszugleichen. Ich habe es trotzdem gemerkt und es verletzt mich auch heute noch.“

Teil meiner Arbeit ist es, über Methoden eine Spur für mögliche Gründe zu finden. Ich gehe davon aus, dass das oben beispielhaft Geschilderte nicht „einfach so“ passiert, sondern einen Hintergrund hat. 

Entlastung durch Verstehen und Nachvollziehen in der Systemischen Familienberatung und damit ein Kennenlernen der eigenen Wurzeln.

Ich erlebe immer wieder, wie erleichternd es für Klient_innen ist, wenn sie feststellen, dass die möglichen Gründe häufig nichts mit ihnen zu tun hatten oder haben, sondern die Ursache woanders liegt. Klient_innen spüren die Auswirkungen und sind nicht die Ursache. 

Nicht immer sind alle Wurzelstränge bekannt.

Manchmal gibt es kein Wissen über den Vater, die Eltern, die Oma, die Tante, die Halbschwester, nur ein, zwei Stichworte.

Ein Beispiel: Es gibt keine Erkenntnisse über den Opa, väterlicherseits, im Familiensystem. Man munkelt, er sei aus dem Mittelmeerraum gewesen. Der Vater wurde nach dem 2. Weltkrieg geboren. Die Oma lebt nicht mehr. Der Vater ist in dem Wissen aufgewachsen „Der spielt keine Rolle.“ und hat demnach gegenüber seinem Sohn nie ein Wort über den Opa verloren. Den gab es eben nicht. 

Ein Konflikt: Der Vater will oder kann nicht hingucken. Der Sohn würde gern mehr erfahren wollen. 

Jede_r braucht einen Platz im Familiensystem.

In meinem Beispiel hätte ich als systemische Familienberaterin vielleicht den Sohn in der Beratung und im Zuge der Biographie-Arbeit würde wir an den Punkt kommen, über den Opa zu sprechen. Auch wenn sein Vater dem Opa keinen Platz im System geben möchte oder kann, darf der Sohn das für sich dennoch tun und wir würden zusammentragen, was wir wissen:

Opa, möglicherweise Teil der Besatzungsmacht Frankreich nach dem 2. Weltkrieg.

Für den Sohn macht es einen Unterschied, den Opa bewusst als Teil seiner Biographie aufzunehmen, da er für sich vielleicht folgendes besser einordnen und Antworten auf mögliche Fragen finden kann:

  • Weshalb hat der eigene Vater so schwer in seine Vaterrolle reinfinden können und konnte mit ihm als Sohn nie etwas anfangen?
  • Ein Bewusstsein dafür zu bekommen, sich eigene Vaterqualitäten erarbeiten zu dürfen (mangels Vorbild seines Vaters) mit Blick auf die Begleitung seines eigenen Sohnes.


Ein anderer Aspekt, der in diesem Fall von Bedeutung ist. Der Vater wird seine Gründe haben, weshalb er dort nicht hingucken möchte. Dies braucht Akzeptanz und das Verständnis, dass jede Generation ihre Themen lösen muss, wenn sie es denn möchte und kann und es nicht die Aufgabe der nächsten Generation ist, dies abzunehmen. Was für den Sohn allerdings wichtig ist: Er darf dem Opa einen Platz geben und muss die Verleugnung des Vaters nicht übernehmen.

Was meint Berthold Ulsamer also mit den Flügeln?

Je bewusster wir uns unserer Wurzeln, den Wechselwirkungen und Dynamiken in unserer Familie sind, desto leichter fällt es uns, uns aufzuschwingen in unser eigenes Leben. Wir wissen dann, was uns trägt, welche Fähigkeiten uns auf unserem Weg dienlich sind und wo der Horizont zum Wachsen liegt.